Funktionen und Folgen Künstlicher Intelligenz
in der Wissenschafts- und Hochschulorganisation
Innovationsanalyse und Transferentwicklung

Der Mainzer Mediensoziologe und Gesellschaftstheoretiker Prof. Dr. Sascha Dickel. Bild: Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Wankt die Mensch-Maschine-Differenz?
Über die Kommunikation mit ChatGPT und das Streben nach Artificial General Intelligence
Aktualisiert: 06.12.2025, 10:38 | Lesezeit: 7 Min.​​
Sendung: 05.12.2025, 20:15 | Dauer: 60 Min.
Mitwirkende: Sascha Dickel, Phillipp Krüger und Marcel Schütz
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Die neue Folge des Podcasts der Forschungsgruppe mit Sascha Dickel
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Der berühmte Turing Test – neu betrachtet für unsere Gegenwart
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Das gesellschaftliche Transformationspotenzial der KI
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Der Mainzer Soziologe Sascha Dickel befasst sich damit, wie Maschinen als Künstliche Intelligenzen kategorisiert werden und unter welchen Bedingungen diese Kategorisierung in unserer Gesellschaft Akzeptanz finden kann. Geboren 1978 in Gießen, studierte Dickel Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Marburg und Frankfurt am Main. Er promovierte 2010 an der Universität Bielefeld und habilitierte sich 2019 an der Technischen Universität München. Seit 2021 ist er Professor für Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. ​
In einer aufschlussreichen Veröffentlichung in diesem Jahr analysiert Dickel, inwiefern KI die Unterscheidung von Menschen und Maschinen infrage stellt und welche Rolle dabei die etablierte Mediatisierung des Mensch-Technik-Verhältnisses spielt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf einen wegweisenden Aufsatz von Alan Turing aus dem Jahr 1950 (Computing Machinery and Intelligence) gerichtet, der gerade im Hinblick auf die Entwicklungen in der Gegenwart als Blaupause für eine kommunikative Lösung des Problems maschineller Intelligenz (neu) gelesen werden kann.
Die aktuelle KInote-Folge:
Sendungsarchiv
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Freitag, 09.08.2025, 20:15
Geist aus der Maschine: Erlangt die Künstliche Intelligenz das Bewusstsein?
Gast: Christoph von der Malsburg (Artikel)​
Reinhören: Der Wissenschaftspodcast der Forschungsgruppe KIWIT​
Gesellschaftliche Aushandlung um den Intelligenz-Status
Dickel fragt, unter welchen Bedingungen Maschinen in unserer Gesellschaft als „intelligent“ gelten. Seine Ausgangsannahme: KI ist kein fest definiertes technisches Objekt, sondern eine kulturell umkämpfte Kategorie, die sich mit jedem technologischen Entwicklungsschub neu formiert. Ob wir etwas als KI betrachten und anerkennen, hängt daher weniger von der inneren technologischen Funktionsweise ab als von den Erwartungen, die wir an die Technologie richten – und davon, wie uns diese in unserer Lebenswelt begegnet und diese beeinflusst.
Verschiebung der Grenze zwischen Mensch und Maschine
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Im Zentrum von Dickels Analyse steht die Beobachtung, dass aktuelle KI-Systeme die traditionelle Unterscheidung zwischen Menschen und Maschinen herausfordern. Während frühere KI-Anwendungen vor allem im Hintergrund technischer Infrastrukturen arbeiteten, treten heutige Systeme sichtbar und hörbar als kommunikative Gegenüber auf, die in unseren Kommunikationen eine gewichtige Rolle spielen können. Sie diffundieren aus dem engen Bereich der Expertendomänen in alle Gesellschaftsbereiche. Diese Verschiebung oder Weiterentwicklung öffnet eine Zwischenzone, in der Maschinen nicht mehr bloß Werkzeuge sind, sondern verstärkt wie eigenständige Akteure, Mitwirkende, Mitdenkende und Mitentscheidende, erscheinen. Dadurch geraten stabile Grenzziehungen – vor allem jene, die Menschen mit ihrer natürlich gegebenen Intelligenz normativ von der Maschine unterscheidet – ins Wanken.
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Kommunikative KI: Warum Interfaces entscheidend sind
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Eine zentrale These Dickels lautet, dass Maschinen dann als intelligent wahrgenommen werden, wenn sie kommunikationsfähig erscheinen. „Kommunikativierung“ ist das Stichwort. Entscheidend ist weniger, was Maschinen technisch leisten, sondern wie sie uns begegnen und auf uns einwirken. Hier setzen speziell hergerichtete Interfaces an: Chatfenster, Sprachdialoge oder visuelle Oberflächen schaffen eine mediatisierte Kontaktzone, in der Maschinen menschliche Ausdrucksformen imitieren können. Komplexe algorithmische Prozesse bleiben verborgen, während Nutzer:innen nur die Oberfläche sehen – eine Form der „kommunikativen Verähnlichung“, die Maschinen in soziale Nähe rückt und sie als Gesprächspartner plausibel macht.
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AGI-Diskurs als Zukunftsversprechen
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Aufmerksamkeit richtet Dickel auch auf die (wieder) aktuelle Debatte um Artificial General Intelligence (AGI). AGI fungiere weniger als kurzfristig realisierbares technisches Ziel, sondern vielmehr als Zukunftsnarrativ, das die Unsicherheit über den tatsächlichen Status heutiger KI überbrückt. Dieses Narrativ hält die Idee „echter“, menschenähnlicher Intelligenz für die Zukunft offen – und schafft so einen Erwartungshorizont, in dem heutige Maschinen als Vorstufen dieser Zukunft gelesen werden können. Der Diskurs auf dem Weg zu einer AGI stabilisiert damit symbolisch, was technologisch noch unterbestimmt ist: den Realitätsstatus der KI.
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KI zwischen Fiktion und Fakt
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Der Mainzer Gesellschaftsforscher gelangt zur Folgerung, dass KI gegenwärtig eine ontologische Hybridposition einnimmt – sie ist zugleich reales Techniksystem und kulturelle Projektion. Die gesellschaftliche Wirkmacht von KI entsteht nicht nur aus algorithmischen Fähigkeiten, sondern aus der Form, wie sie über Interfaces kommuniziert, Erwartungen bündelt und unsere sozialen Kategorien herausfordert. Gerade weil KI zwischen Fiktion und Fakt oszilliert, wird ihr gesellschaftlicher Status stetig weiterverhandelt. Darin gründe, so argumentiert Dickel, die Dynamik des aktuellen KI-Booms.
Dass dieser Fortschritt auch gesellschaftliche Risiken mit sich bringt, wichtige Fragen um Macht, Verantwortung und Ethik, verschweigt die Diskussion im Podcast nicht. Gleichwohl weiß unser Gast auch die Annehmlichkeiten der KI-Applikationen zu schätzen. Im Alltag nutzt er Sprachmodelle gern und vielfältig – und macht, wie viele, die Erfahrung, regelmäßig sowohl hilfreiche als auch unnütze Ergebnisse zu erhalten.
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Die Folge greift zentrale Aspekte und Argumentationen aus Sascha Dickels Arbeit auf und entwickelt daran anschließende Überlegungen im Hinblick auf die derzeitige Diskussion über generative KI und Nutzung von Sprachmodellen. Das Gespräch führen Prof. Dr. Marcel Schütz und wissenschaftlicher Mitarbeiter Phillipp Krüger von der Forschungsgruppe KIWIT.
Dickel, Sascha (2025): Im Imitationsspiel. Über die Kommunikation mit Maschinen und das Streben nach Artificial General Intelligence. In: Zeitschrift für Soziologie 54(2), S. 190-206. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2025-2011

