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KIWIT SPEZIAL

Dahrendorf-Professor Rudolf Stichweh anlässlich eines Vortrags über die Geschichte der USA. Bild: Privat. 

ZUM START VON KIWIT
Die Multifunktionalität der Interdisziplinarität 

Der Gesellschaftstheoretiker und Wissenschaftssoziologe Rudolf Stichweh hat sich über sein ganzes Forscherleben hinweg mit der Rolle der Interdisziplinarität befasst. Er blickt auf zahlreiche internationale Stationen zurück und wirkte in großen Projekten mit. 1984 wurde er mit einer Arbeit über die Entstehung der Physik als Disziplin in Deutschland promoviert. In diesem Beitrag erläutert Stichweh – wissenschaftlicher Beirat der KIWIT-Forschungsgruppe – zentrale Formen und Funktionen des interdisziplinären Arbeitens in der Wissenschaft. 

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Von Rudolf Stichweh

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Die Entstehung von Interdisziplinarität setzt ein hinreichend großes und hinreichend diverses System wissenschaftlicher Disziplinen voraus, in dem die Komplexität der Beziehungen zwischen diesen Disziplinen mit dem Begriff Interdisziplinarität bezeichnet wird. Dies ist eine Bedingung, die im Wissenschaftssystem der Moderne etwa um 1850 erfüllt ist (Stichweh 1984), einem Zeitpunkt, zu dem immer neue Disziplinen in den Natur- und Geisteswissenschaften entstehen, die Sozialwissenschaften aber nur in ersten Ansätzen (meist als Staatswissenschaften) vorhanden sind und zugleich erste Anzeichen der Entstehung eines neuen Typus von Technikwissenschaften registriert werden können.

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Modernes Wissen lateral und dynamisch
 

Außer der Komplexität des Systems wissenschaftlicher Disziplinen ist dessen innere Dynamik wichtig. Anders, als dies in der Vormoderne der Fall war, ist die moderne Ordnung des Wissens weder hierarchisch strukturiert noch von der Art, dass sie die Wissensbestände voneinander trennt und dadurch immobilisiert. Sie ist vielmehr lateral und dynamisch. Die Wissensbestände werden aufeinander bezogen und treten in Interaktionen, in denen sie einander fordern und herausfordern und dadurch in Bewegung geraten.

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In dieser Welt, in der Interdisziplinarität ein anderes Wort für die jede Disziplin bestimmende innere (d. h. wissenschaftssysteminterne) Umwelt der anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist, entstehen immer neue Formen und Funktionen der Interdisziplinarität. Erstens sind dies Transfer und Innovation: Interdisziplinarität ist die bestimmende Form des Wissenstransfers und des Generierens von Innovationen im Wissenschaftssystem der Moderne. Methoden und Theorien und andere epistemische Bausteine werden unablässig zwischen den Disziplinen transferiert und lösen im disziplinären Kontext ihrer Rezeption Innovationen aus, die manchmal so weittragend sind, dass sie neue Disziplinen hervorbringen (Ben-David & Collins 1966).

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Rudolf Stichweh (2013): Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Bielefeld.

In Vorbereitung von Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Band 2. Bielefeld.

Professor Dr. Rudolf Stichweh

Rudolf Stichweh hat sich als ausgewiesener Kenner des Wissenschaftssystems der heutigen Weltgesellschaft einen Namen gemacht. Bild: Privat.

Über den Autor

 

Prof. Dr. Rudolf Stichweh, geboren 1951 im lippischen Lemgo, studierte Soziologie und promovierte 1984 mit einer Arbeit zur Entstehung der Physik als wissenschaftliche Disziplin. Anschließend habilitierte er sich und übernahm den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bielefeld als direkter Nachfolger von Niklas Luhmann, einem der bedeutendsten Vertreter der Systemtheorie. Heute ist Stichweh Seniorprofessor für Soziologie an der Universität Bonn und ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern, deren Rektor er von 2006 bis 2010 war. Ab 2012 Dahrendorf-Professor für Theorie der modernen Gesellschaft und Direktor des Forums Internationale Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Arbeit fokussiert vor allem auf die System- und Gesellschaftstheorie, die Entwicklung und Differenzierung moderner Gesellschaften sowie die Soziologie von Wissenschaft und Bildung. Stichweh hat maßgebliche Beiträge zum Verständnis der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften geleistet. Sein interdisziplinärer Ansatz erlaubt es ihm, über die Grenzen der Soziologie hinauszugehen – so wie es auch der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in einem Artikel anlässlich des 70. Geburtstags Stichwehs würdigte: „Er kann über Biologie und Physik genauso Auskunft erteilen wie über Sportgeschichte und Literatur. Dabei ist er von Haus aus Soziologe.“ Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Darunter Gastprofessuren an der Princeton University und der University of Chicago. Aufnahme in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und in die Leopoldina. Verleihung der George-Sarton-Medaille für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Gent. Seit 2020 Mitglied der Lise Meitner Research Group "China in the Global System of Science" am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Und ab 2025 gehört Rudolf Stichweh – worüber wir uns sehr freuen – dem wissenschaftlichen Beirat der KIWIT-Forschungsgruppe an. Zur Webseite von Rudolf Stichweh.

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​​​​​Eine zweite Form der Interdisziplinarität, diKompetition, ruht nicht auf Transfers, sondern hat die Form der laufenden Beobachtung einer oder mehrerer anderer Disziplinen durch die Forschenden einer bestimmten Disziplin. Man wählt den eigenen Entwicklungspfad auf der Basis der Beobachtung des Entwicklungspfads einer anderen Disziplin, mit der man über Beziehungen der Kompetition oder des Konflikts verbunden ist. Dies kann einzelne Transfers einschließen, aber der Kern liegt in der Wahl der eigenen Trajektorie auf der Basis der Beobachtung der Trajektorie anderer Disziplinen.

 

Kooperation und Exzellenz bilden eine dritte Ausprägung: In dem Maße, in dem wissenschaftliche Kooperation zur dominanten Arbeitsform der Wissenschaft wird, findet Interdisziplinarität zunehmend auch im einzelnen wissenschaftlichen Projekt und in den zugehörigen Publikationen statt. Man sucht Kooperationspartner, die die Leistungsfähigkeit und den Blickwinkel anderer Disziplinen einbringen, und man muss dies auch deshalb tun, weil bei der Begutachtung der eingereichten Publikationen und Projekte die Berücksichtigung komplementärer Perspektiven eingemahnt wird. Projekte und Publikationen, die es mit komplexen gesellschaftlichen Problemlagen zu tun haben, tendieren heute oft dazu, Interdisziplinarität in der Form der Multidisziplinarität zu realisieren.

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Horizonterweiterung Kennzeichen wissenschaftlicher Bildung

 

Eine vierte Form und Funktion ist in der epistemologischen Selbstreflexion zu sehen. Sie verdankt sich dem selbstkritischen Impuls, die Beobachtungen, die man in der Forschung anstellt, durch Beobachtungen zu relativieren, die sich den Perspektiven anderer Disziplinen verdanken. In dieser Sicht geht es um die epistemologische Klärung der Bedingungen des eigenen Beobachtens, also um Selbstreflexion, und es ist diese Funktionsstelle, an der sich Interdisziplinarität am deutlichsten mit dem Hochschulunterricht verknüpft, weil auch dieser Disziplinarität der Ausbildung und interdisziplinäre Kontextierung verbinden sollte. Interdisziplinarität ist insofern auch ein entscheidender Teil der Horizonterweiterungen, die genuin wissenschaftliche Bildung verlangt (Stichweh 2017).

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Vielfach ist Interdisziplinarität heute – fünftens – auch eine Norm, vor allem in den Institutionen der Forschungsförderung, die interdisziplinäre Anteile in Projekten verlangen. Begründungen für diese Norm lassen sich in den genannten Formen und Funktionen der Interdisziplinarität leicht finden. Nur ist die autonome Dynamik der Interdisziplinarität im Wissenschaftssystem so auffällig, dass man zweifeln kann, ob es diese Norm zusätzlich braucht.

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Eine frühere Fassung dieses Beitrags erschien im Wörterbuch Erwachsenen- und Weiterbildung, herausgegeben von Rolf Arnold u. a. (2023), Bad Heilbrunn, 3. Auflage (S. 221–222).

 

Literatur: Ben-David, J. Collins, R. (1966): Social factors in the origin of a new science. The case of psychology. In: American Sociolo­gical Review 31(4), S. 451–465 / Frodeman, R. (Hrsg.) (2017): The Oxford handbook of interdis­ciplinarity. Oxford (GB): Oxford University Press. / Stichweh, R. (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740– 1890. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. / Stichweh, R. (2017): Interdisziplinarität und wissenschaftliche Bildung. In: H. Kauhaus & N. Krause (Hrsg.): Fundiert forschen. Wissenschaftliche Bildung für Promovierende und Postdocs (S. 181–190). Wiesbaden: Springer VS.

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