Funktionen und Folgen Künstlicher Intelligenz
in der Wissenschafts- und Hochschulorganisation
Innovationsanalyse und Transferentwicklung

KI-KONTEXTE mit Dr. Jan Keller (Bilder: DWD/Privat)
INTERVIEW
„Zum Glück liegen die Wettermodelle auch mal daneben“ – Wie der DWD die KI nutzt
16.10.2025, 10:37 | Lesezeit: 9 Min.
Von KIWIT Redaktion
„Die Wettervorhersage stimmt doch nie!“ – Stimmt nicht, sagt Jan Keller vom Deutschen Wetterdienst. Der Meteorologe leitet bei Deutschlands renommierter Wetterbehörde den Bereich Datenassimilation. Er befasst sich mit KI-Anwendungen, die die Wettervorhersage optimieren können. Wir sprachen mit Jan Keller über die Verbindung mit klassischen Vorhersagemodellen, welche Chancen Künstliche Intelligenz für die Meteorologie eröffnet – und warum natürliche Intelligenz wichtig bleibt.
Es ist die 1. Folge unserer neuen Spezial-Reihe KI-KONTEXTE.
KIWIT: Herr Dr. Keller, zunächst ein Verdacht, den vermutlich auch Sie bestätigen werden: Meteorologe wird man, wenn man sich schon als Kind fürs Wetter begeistern konnte? Wie kamen Sie zum Wetter?
Keller: Tatsächlich war auch ich schon als Kind vom Wetter fasziniert – vor allem von Gewittern. Ich hatte den Wunsch, sie besser zu verstehen. Und so habe ich ungefähr in der 10. Klasse beschlossen, Meteorologe zu werden. Übrigens sind beim DWD längst nicht alle Wissenschaftler Meteorologen. Wir haben auch eine große Anzahl an Physikern und Mathematikern bei uns im Team.
Eine verbreitete, pauschale Alltagsbeobachtung: Viele Leute meinen, die Wettervorhersage stimme oft gar nicht.
Wir überprüfen unsere Vorhersagegüte kontinuierlich für verschiedene Parameter. Und diese Auswertungen zeigen, dass die Wettervorhersagen immer besser werden – wenn auch nicht für alle Parameter gleich. Meine Vermutung ist, dass die Menschen sich an die besseren Vorhersagen gewöhnen, zumal die Verbesserungen eher langsam und stetig sind, nicht plötzlich. So war zum Beispiel eine Vorhersage für den nächsten Tag vor ungefähr 15 Jahren so gut, wie wir heute eine Vorhersage für drei Tage in die Zukunft machen können. Aber natürlich stimmt die Vorhersage auch mal nicht. Das fällt den Menschen dann vielleicht eher auf, wenn die Vorhersagen im Allgemeinen besser geworden sind.

Wie in vielen anderen Bereichen ist auch in der Meteorologie immer häufiger von der Bedeutung Künstlicher Intelligenz die Rede. Welche Rolle spielt sie inzwischen in der Wetterforschung und -vorhersage?
Nimmt man die eigentliche Bedeutung von KI als statistische Lernverfahren, so werden diese Methoden schon seit Jahrzehnten in der Wetterforschung verwendet. Neu ist vor allem die Nutzung statistischer Modelle basierend auf neuronalen Netzen, die anhand von großen Datensätzen trainiert werden. Dieses Vorgehen meint man heute meistens, wenn man von KI spricht.
Durch die riesigen Datenschätze, die Meteorologen seit langer Zeit sammeln, können diese Methoden natürlich sehr gewinnbringend eingesetzt werden, da die neuronalen Netze besser werden, je mehr Daten sie zur Verfügung haben. Dadurch hat KI – in diesem Sinne – inzwischen eine sehr große Rolle in der Wetterforschung. Allerdings stößt man auch dort schon auf Grenzen, vor allem wenn man an das Training von ganzen KI-Wettermodellen denkt, da die Hardware – also hauptsächlich Grafikkarten –, gerade was den Speicherbedarf angeht, nicht für solche Anwendungen ausgelegt sind.
Der DWD hat in diesem Jahr ein eigenes KI-Zentrum eingerichtet. Was steckt hinter dieser Initiative und welche Ziele verfolgen Sie damit?
Die Nutzung von KI beim DWD betrifft neben der numerischen Wettervorhersage auch viele andere Anwendungen im Bereich Wetter und Klima. Zudem behandeln unsere KI-Anwendungen nicht nur meteorologische Daten, sondern wir arbeiten auch an eigenen Sprachmodellen. Und um diese Entwicklungen strukturiert voran zu bringen und möglichst viele Synergien zu erzeugen, wurde das KI-Zentrum des DWD geschaffen. Dort arbeiten KI-Entwickler zusammen mit Mitarbeitenden aus den Facheinheiten wie Wettervorhersage, Klima-Monitoring aber auch der Verwaltung, um die KI-Methoden zu entwickeln.
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Alle weltweiten Messungen und Beobachtungen sowie die Ergebnisse der Computervorhersagen laufen in der DWD-Zentrale in Offenbach zusammen. Bild: DWD

Wettermeldungen, Computervorhersagen für die nächsten zehn Tage und viel persönliche Erfahrung sind Grundlagen amtlicher Wetterwarnungen des DWD. Bild: DWD

Wind und Wetter unserer Welt: Eine Satellitenaufnahme bildet die Pressewand des DWD. Bild: DWD

Alle weltweiten Messungen und Beobachtungen sowie die Ergebnisse der Computervorhersagen laufen in der DWD-Zentrale in Offenbach zusammen. Bild: DWD
Auf Wetter-Webseiten liest man immer öfter von „KI-Wettermodellen“. Was verbirgt sich dahinter – und worin unterscheiden sie sich von klassischen numerischen Modellen?
Zunächst einmal zu den klassischen – wir sagen eher physik-basierten – Modellen: Die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten bzw. die zeitliche Veränderung der Atmosphäre sind in Form von partiellen Differentialgleichungen in Computerprogramme implementiert. Diese Gleichungen werden dann immer für einen Zeitschritt gelöst – also es wird eine „Mini“-Vorhersage gerechnet. Durch die räumliche Auflösung (heißt: wie fein ich die Prozesse vorhersagen möchte) wird die Länge dieses Zeitschrittes bestimmt – je feiner die Auflösung, desto kürzer der Zeitschritt. Dadurch benötigt eine 24-Stunden-Vorhersage hunderte oder tausende von Einzelschritten.
KI-basierte Modelle sind statistische Modelle – oder um genauer zu sein: trainierte neuronale Netze. Während des Trainings lernen diese Modelle, ausgehend von einem Anfangszustand einen bestimmten Endzustand möglichst gut wiederzugeben. In diesem Sinne kennt ein KI-Modell während des Trainings bereits den „wahren“ Zielzustand der Atmosphäre. Es gibt aber keine Einschränkungen bezüglich des Zeitschrittes, das heißt bei den aktuellen globalen KI-Wettermodellen braucht man weniger als zehn Schritte für eine 24-Stunden-Vorhersage. Zusätzlich zu diesem starken Geschwindigkeitsgewinn zeigen die Modelle auch eine etwas bessere Vorhersagegüte.
KI-Wettermodelle lernen aus früheren Wetterentwicklungen. Wie nutzen klassische Modelle wie das ICON vom DWD, das Europäische (ECMWF) oder das US-Modell (GFS) vergangene Daten. Worin liegt der Unterschied?
Physik-basierte Modelle berücksichtigen das vergangene Wetter nur in der Hinsicht, dass alle Verbesserungen in diesen Modellen in vergangenen Zeiträumen getestet und dann gegen die „Wahrheit“ evaluiert werden. Dadurch wird die Vergangenheit indirekt berücksichtigt – also nur durch die Entwickler selber.
Gut zu wissen
Wettermodelle sind komplexe Rechenprogramme, die auf physikalischen Gesetzen beruhen und das Verhalten der Atmosphäre simulieren. Sie verarbeiten riesige Mengen an Messdaten – etwa zu Temperatur, Luftdruck und Wind – und berechnen daraus die zukünftige Wetterentwicklung. Künstliche Intelligenz (KI) kommt zunehmend zum Einsatz, um diese Modelle zu verbessern: Sie hilft, Datenlücken zu schließen, Prognosen zu verfeinern und Muster in großen Klimadatensätzen schneller zu erkennen.
Intuitiv könnte man annehmen, dass sich konventionelle und KI-basierte Modelle ergänzen und so die Prognosegüte weiter steigt. Trifft das zu – und wo liegen Grenzen?
Es gibt einige Möglichkeiten, klassische und KI-basierte Verfahren zu kombinieren. Eine Möglichkeit ist die Nutzung von KI-Modellen für die sogenannte Ensemble-Vorhersage. Dabei werden viele Modellsimulationen mit leicht unterschiedlichen Anfangsbedingungen gemacht, um so die Unsicherheiten der Vorhersage abzuschätzen. Bei klassischen Modellen ist die Anzahl an verschiedenen Realisierungen durch die Rechenzeit auf unter 50 begrenzt. KI-Modelle könnten hier viel größere Ensembles mit hunderten oder tausenden Realisierungen möglich machen.
Ein weiterer Ansatz ist das sogenannte „Spectral Nudging“. Dabei geht man von der Erkenntnis aus, dass KI-Modelle vor allem auf den großen Skalen bessere Vorhersagen liefern. Um diese Qualität in der physik-basierten Modellen zu nutzen, wird das physikalische Modell dann vor allem in der mittleren und oberen Troposphäre kontinuierlich zur KI-Vorhersage hinzugezogen. In Bodennähe, wo sich tendenziell eher kleinskalige Prozesse abspielen, kommt dann die Güte des physikalischen Modells zum Tragen.
Außerdem gibt es die Möglichkeit, KI-Methoden in die physikalischen Modelle zu integrieren. Dabei würden bestimmte Prozesse, die das physikalische Modell nicht gut oder nur mit sehr hohem Rechenaufwand repräsentiert, durch gelernte KI-Komponenten ersetzt. Dies bedeutet aber aufwändige Entwicklungsarbeiten.
Stichwort Ensemble-Vorhersage: Heißt das wiederum auch, dass es durch den großen Output schwieriger wird, sich der wahrscheinlichen Lösung anzunähern?
Ja und nein. Die „großen“ Ensembles – also mit hunderten oder tausenden Realisierungen – sollten uns ermöglichen, die Unsicherheitsverteilung der Vorhersagen besser abschätzen zu können. Allerdings haben Sie recht, dass solche riesigen Datenmengen schwieriger zu verwenden und auszuwerten sind – wobei das aber „nur“ ein technisches Problem ist und kein inhaltliches.
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Das mögen viele: Altweibersommer und Goldenen Oktober. Den gibt es dieses Jahr verbreitet eher sparsam. Mit KI-Anwendungen lässt sich inzwischen der Verlauf der Laubfärbung prognostizieren. Bild: KIWIT

Die interaktive Karte von Explore Fall prognostiziert mit KI, wie sich die Laubfärbung in Nordamerika für die nächsten Tage entfaltet. Bild: https://www.explorefall.com

Garantiert KI: Eine Lösung von ChatGPT 5 für den Promt: „Hamburg im Goldenen Oktober“. Gut zu erkennen ist die Übergeneralisierung. Bild: Gemeinfrei

Das mögen viele: Altweibersommer und Goldenen Oktober. Den gibt es dieses Jahr verbreitet eher sparsam. Mit KI-Anwendungen lässt sich inzwischen der Verlauf der Laubfärbung prognostizieren. Bild: KIWIT
Welche Rolle kommt künftig den Meteorologinnen und Meteorologen selbst zu? Bleibt Raum fürs „menschliche Augenmaß“ – für Erfahrung, Intuition und den letzten Schliff in der Vorhersage, etwa bei Besonderheiten von Berg und Tal, Küste und Binnenland?
Beim DWD werden die numerischen Wettervorhersagen – also die Computermodelle – regelmäßig berechnet und bereitgestellt. Aber die Vorhersageprodukte selber sind das Ergebnis einer Prozesskette, die auch die Wettervorhersager als einen wesentlichen Pfeiler beinhaltet. Die Vorhersagen bzw. Warnungen, die der DWD veröffentlicht, werden also durch einen Menschen erstellt oder geprüft. Das mit dem „menschlichen Augenmaß“ beschreibt es schon ganz gut.
Ein schwieriges Thema bleibt die Bewölkung: Gerade bei bestimmten Lagen hakt die Kurzfrist-Prognose. Mal sagt das Modell „10 Stunden Sonne“ – und der Himmel bleibt zu; ein anderes Mal „ganztägig bedeckt“ – und mittags wird Grau zu Blau. Warum ist Sonnenschein mitunter so schwer vorherzusagen – könnte KI das optimieren?
Die zu Grunde liegenden Prozesse sind relativ kompliziert und daher auch mit den modernen Wettervorhersage-Modellen nicht immer richtig vorherzusagen. Pauschal kann maschinelles Lernen dabei erstmal nur begrenzt helfen, aber es gibt hier einige Ideen für KI-basierte Methoden, die dann auch Beobachtungsdaten (in diesem Fall Satellitendaten) berücksichtigen würden.
Lässt sich mit KI auch weiter in die Zukunft des Wetters blicken? Klassische Modelle stoßen nach einigen Tagen an physikalische Grenzen. Kann KI diese nach hinten verschieben?
Das ist derzeit noch ein offener Diskussionspunkt in der Wissenschaft. Es gibt die Meinung, dass der bisherige Vorhersagehorizont von maximal ca. zwei Wochen auch mit KI-Modellen begrenzt bleibt. Andere vermuten, dass er sich nach hinten schiebt, da diese Modelle etwas anders funktionieren. Aber eine realistische Vorhersage für Monate im Voraus ist dennoch nach heutigen Wissen auch mit KI nicht abzusehen.
Video | Wie wird eine Wettervorhersage erstellt? (DWD)
Der DWD kommuniziert sachlich und zurückhaltend, während andere Anbieter mit Schlagzeilen wie „Horrorhitze“ oder „Schneewalze“ arbeiten. Ist nüchterne Kommunikation Teil des Selbstverständnisses des DWD – auch als wissenschaftlicher Akteur?
Wir im DWD verstehen uns nicht als Medienunternehmen, das Aufmerksamkeit erzeugen möchte, sondern als staatliche Fachbehörde mit wissenschaftlichem Forschungsauftrag. Unsere Aufgabe ist es, objektiv und fachlich, nach bestem Wissen und Gewissen, über Wetter, Klima und deren mögliche Auswirkungen zu informieren.
Zum Schluss darf ein Blick aufs aktuelle Wetter nicht fehlen: Der „Goldene Oktober“ hält sich in vielen Regionen buchstäblich bedeckt – Hochdruckgebiete liegen ungünstig, „Nordseesuppe“ sickert ins Land. Gibt es abseits der Höhen noch Chancen auf ein paar strahlend-herbstliche Tage?
Leider sieht es für die nächsten zwei Wochen derzeit eher nach einem weiterhin grauen Oktober mit ein paar kurzen Lichtblicken aus – aber zum Glück liegen die Wettermodelle ja auch mal daneben.
Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Arbeit des DWD und die KI-Nutzung in der Wetterforschung.

Wetterforscher und KI-Gestalter
Dr. Jan Keller ist diplomierter und promovierter Meteorologe. Beim DWD leitet er die Datenassimilation. Zuvor verantwortete er eine Forschungsgruppe und war auch am National Center for Atmospheric Research in Colorado (USA) als Gastforscher tätig. Studium der Meteorologie an der Universität zu Köln, Doktorarbeit an der Universität Bonn. Keller beschäftigt sich in der Datenassimilation mit der Einbindung neuer Beobachtungsdaten in Wetter- und Klimamodelle. Gemeinsam mit seinem DWD-Kollegen Roland Potthast hat Keller 2024 eine wichtige Studie vorgelegt: Erstmals gelang es den Forschern, Wetterbeobachtungsdaten ausschließlich mittels KI-Einsatz in Vorhersagemodelle und Analyseprozesse zu integrieren.
In der Serie KI-KONTEXTE werden KI-Nutzungen und Entwicklungen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen präsentiert. Die zweimonatliche Reihe umfasst dabei interdisziplinäre Forschungs- und Anwendungsfelder der öffentlichen Daseinsvorsorge und Versorgung – vom staatlichen Wetterdienst über Energie und Mobilität bis zur Bildung.
Verantwortlich für KI-KONTEXTE: Prof. Dr. Marcel Schütz (Northern Business School Hamburg)
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Zur Webseite des Deutschen Wetterdienstes (DWD)
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Pressemeldung zur Eröffnung des KI-Zentrums des DWD.
Review: 16.10.2025



